Im Gespräch

ein Interview mit Joachim Schweppe von Gerd Spiekermann NDR 90,3 (29. Mai 1986)

Gerd Spiekermann sprach mit Joachim Schweppe am 29. Mai 1986 auf der NDR-Hamburg-Welle 90,3 im Rahmen der Reihe Im Gespräch. Wir dokumentieren Auszüge aus dieser Sendung.

Herr Schweppe, Sie sind am 3.3.1926 in Kiel geboren, aber dann sehr schnell übergesiedelt nach Hamburg und sind hier auch zur Schule gegangen.

Ja, ich habe das Christianeum besucht in Hamburg-Othmarschen und hatte das Glück, einen Tag, bevor ich das Abitur ablegen sollte, eingezogen zu werden. Das war 1944.

Hatten Sie Angst vor der Abiturprüfung?

Ja, also, ich war kein guter Schüler, und in den letzten Schuljahren kam hinzu, dass ich doch schon sehr viel Musik gemacht hatte und es für wichtiger hielt zu üben. Wir waren damals alle Luftwaffenhelfer, also diejenigen jungen Leute, die die höheren Schulen besuchten. Ich war Luftwaffenhelfer in Glashütte und hatte vormittags Unterricht. Die Lehrer kamen in die Stellungen, um uns zu unterrichten, und nachmittags hatte ich einige Stunden Sonderurlaub und fuhr in die Stadt, um Klavier zu üben. Also, es stand schon damals fest – ich war zu der Zeit sechzehn, siebzehn Jahre alt -, dass ich Musiker werden wollte.

Wo sind denn die Ursprünge Ihrer eigenen Musikalität zu suchen? Hat Ihr Elternhaus Sie dahingehend beeinflusst?

Ja, es ist wohl so, dass Einflüsse von zu Hause vorhanden gewesen sind.

Wurde dort Musik gemacht?

Ja, es wurde Musik gemacht. Es wurde Klavier gespielt, gesungen, allerdings so auf gutbürgerlicher Ebene, das war nichts Profihaftes, das war auch nicht besonders gut, würde ich sagen. Aber man hat zusammen Konzerte gehört, und es hat sich dann allmählich herauskristallisiert, dass man versuchen wollte, Musik zu machen. Ich hab auch früh angefangen zu komponieren, aber das war zunächst natürlich ziemlicher Mist, das muss man einfach mal sagen. Wissen Sie, es war ja auch damals eine sehr schwierige Zeit. Alles das, was wir heute als gute moderne Musik betrachten, galt damals ja als entartet. Und deshalb hatten wir doch kaum eine Ahnung von Strawinsky und von Bartók, von Schönberg und Anton Webern schon gar nicht, allenfalls Hindemith. Und im kirchenmusikalischen Bereich wurde Distler eben und eben geduldet, obwohl es da auch Stimmen gab, die ihn auf die schwarze Liste setzen wollten. Also von daher ist es sehr schwierig, vielleicht ja auch sogar gut gewesen, dass man gezwungen war, völlig seinen eigenen Weg zu finden, aus sich selbst heraus irgend etwas zu machen. Und dass dieser Weg, wenn man ihn aus sich selbst heraus macht, ein langwieriger Weg ist, das ist in gewisser Weise einleuchtend.

Lassen Sie uns noch bei der Zeit bis ’45 bleiben. Sie sind noch eingezogen worden?

Ich bin eingezogen worden. Ich war dann zunächst nach der Luftwaffenhelferzeit beim Arbeitsdienst drei Monate im Baltikum und wurde dann im Sommer ’44 eingezogen zur Luftwaffe. Ich hatte mich freiwillig gemeldet zur Division „Hermann Göring“.

Warum freiwillig?

Ja, wissen Sie, wir wussten damals noch nicht, dass wir auf dem falschen Dampfer waren – da war ich der Meinung, dass wir auf der richtigen Seite waren. Von daher bot es sich an, sich in irgendeiner Weise zu einer Elite-Formation zu melden. Ich habe mich auch damals, obwohl ich Musiker werden wollte, als aktiver Offiziersbewerber gemeldet. Ich dachte, wenn der Krieg dann vorbei ist, hat man immer noch Zeit, sich zu überlegen, was man nun tatsächlich machen will.

Wie wurden Sie denn mit der Tatsache fertig, dass Deutschland den Krieg verloren hatte? Sie waren doch vorher ein Anhänger, auch ein überzeugter Anhänger. Sie sagten, Sie waren der Meinung, Sie seien auf dem „Richtigen Dampfer“, und kriegten dann am 8. Mai 1945 doch zu spüren, dass Sie auf dem „Falschen Dampfer“ gesessen hatten.

Ja, der Irrtum, auf dem richtigen Dampfer zu sein, resultierte daher, dass wir – von der Erziehung her, auch von der Hitlerjugend, und durch die unglaublich geschickte Propaganda der Nazis -, dass wir eben damals noch annahmen, eine gerechte Sache zu vertreten. Und es war damals ein gewaltiger Schock, nach und nach einsehen zu müssen, was für Menschen Hitler und seine Anhängerschaft wirklich gewesen waren.

Sie haben dann Musik studiert? Wo war das?

Ja, ich fuhr alle ein, zwei Wochen nach Hamburg und hatte zunächst Privatunterricht in Klavier bei einem damals sehr angesehenen Mann, Carlo Stephan, später bei der nicht minder angesehenen Eliza Hansen. Außerdem nahm ich bald danach Kompositionsunterricht bei Professor Klussmann. Das war ein bedeutender Lehrer, und viele seiner Schüler haben es als Komponisten zu etwas gebracht. An Kirchenmusik dachte ich damals noch nicht. Ich habe Klavier gespielt, obwohl ich bald sah, dass meine Begabung nicht ausreichte, um Pianist zu werden, dazu war ich viel zu einseitig begabt. Mir fehlten die Möglichkeiten der vielseitigen musikalischen Begabung. Ich war damals verkrampft, norddeutsch, introvertiert, und hatte es an sich sehr schwer mit mir und mit der Umwelt.

Und dennoch haben Sie sich entschlossen, die Musik zum Hauptbestandteil Ihres Lebens zu machen, auch beruflich?

Ja, auch beruflich, obwohl ich damals überhaupt nicht wusste, wie es aussehen sollte, mit der Musik Geld zu verdienen. Das war alles sehr schwierig, und es ist jahrelang so gewesen, dass ich eigentlich nur aus Pflichtbewusstsein und aus innerem Antrieb übte. Jeden Tag sechs, acht oder zehn Stunden, obwohl ich wußte, dass ich in dieser Branche innerhalb der Musik kaum Geld verdienen konnte.

Wovon haben Sie denn damals gelebt?

Tja, vom Portemonnaie meiner Eltern eigentlich, muss ich sagen. Ich hatte dann natürlich auch bald ein paar Klavierschüler, aber das war ja alles doch sehr vage und schwierig. Viele Leute sagten damals, na ja, Schweppe, das ist eine verkrachte Existenz.

Nicht ganz zu Unrecht!?

Ich sah es selbst so. Das einzige, was in diesem Zusammenhang damals wichtig war, dass ich manchmal merkte, eine gewisse Begabung zu haben, die Töne zu ordnen, also zu komponieren. Allerdings ist es so gewesen, dass ich kaum jemals jemandem etwas von den Sachen zeigte, die ich komponiert hatte. Sie waren alle ganz tief im Schreibtisch versteckt. Und eigentlich habe ich erst zehn Jahre später, mehr so einer Laune folgend, diese Versuche zu Wettbewerben oder an den Rundfunk geschickt, und auf einmal klappte alles sofort, und ich bekam Preise, was natürlich nichts über die Qualität dieser Kompositionen besagt, das muss man natürlich sagen. Ich glaube, Pfitzner war es, der sagte, je preiser gekrönt, desto durcher gefallen.

Herr Schweppe, Sie haben sich dann doch eines guten Tages entschlossen, Kirchenmusiker zu werden, und damit auch Ihre musikalische Laufbahn beruflich abzusichern.

Ja, da hat meine Mutter so ein bisschen geholfen. Sie sah natürlich ein, dass aus ihrem Sohn nichts Rechtes zu werden schien, und sie hat dann so ein bisschen aber meinen Kopf hinweg Fäden gesponnen nach Lübeck hin. Und eines Tages fragte sie mich plötzlich, hättest du nicht Lust, Kirchenmusik zu machen, ich hab das schon ein wenig vorbereitet. Der Zufall wollte es, dass sich meine Mutter mit einem Pastor in Lübeck unterhalten hatte. Und so kam ich an die Aegidienkirche in Lübeck, wo dieser Pastor sein Amt versah. An derselben Kirche lernte ich Manfred Kluge kennen, der ebenfalls dort tätig war. Und er ist in der Folgezeit derjenige gewesen, der mich sehr stark gefördert hat. Er stärkte mein Selbstvertrauen, indem er mir immer wieder sagte: du musst komponieren, du bist ein Komponist. Und von da an hat dann eigentlich alles mit einem Mal sehr gut funktioniert. Selbstverständlich habe ich auch meine Niederlagen erlitten und meine Rückschläge gehabt, aber es war dann kontinuierlich so, dass man die Richtigkeit sah, eben Musiker zu sein.

Vielleicht ist noch etwas wichtig in diesem Zusammenhang, als Sie vorhin fragten, wie ich die Niederlage, die politische Niederlage Deutschlands verkraftet habe. Ich hatte damals einen Freund kennengelernt, der Maler war, und der nun von seiner Erziehung und vom ganzen Umfeld her eine ganz andere Entwicklung durchgemacht hatte. Der wusste von Anfang an, dass wir auf dem falschen Dampfer saßen. Dieser Maler heißt Carlo Kriete.

Von Carlo Kriete haben Sie ein Bild hier in Ihrem Arbeitszimmer hängen, Verwundeter Russe heißt es, ein sehr dunkles Bild, mit einem recht brachigen Holzrahmen schon, der einfach zusammengehämmert ist. Man sieht ein menschliches Gesicht, mit offenem Mund, im dunklen Grün, Blau und ganz grauen Tönen, ein bißchen Ocker ist angedeutet, aber sehr deutlich doch als ein ganz verzweifelter Mensch zu erkennen.

Ja, das Bild hat er mir geschenkt, bald nach Ende des Krieges. Kennengelernt haben wir uns dadurch, dass er mit einem Bruder von mir, der gefallen ist, zusammen Soldat war. Und vor allen Dingen haben wir dann später einige Jahre zusammen in Rahlstedt gewohnt, im sogenannten Steinhagen-Haus, das leider mittlerweile abgerissen worden ist. In diesem Steinhagen-Haus wohnten Künstler, Maler, Musiker, Graphiker. Das war an sich eine ganz tolle Zeit. Zunächst und in erster Linie eben durch Carlo Kriete, der eine gewaltige Künstlerpersönlichkeit ist, und, wie ich das wohl annehmen möchte, von uns allen, von diesem ganzen Umfeld, der bedeutendste Künstler war und schon damals am meisten Eigenleben in seinen Werken hatte. Und er war es, der mir geholfen hat, vom falschen auf den richtigen Dampfer umzusteigen.

 Ist der richtige Dampfer die Kirche?

Ja, nun, das ist eine schwierige Frage.

Oder anders herum: Ist Ihnen der Weg zur Kirche leicht gefallen? Sie sagten schon, Ihre Mutter hat in diesem Zusammenhang entscheidend die Weichen gestellt. Haben Sie sich dadurch nicht ein bisschen bevormundet gefühlt?

Also, etwas schon. Aber nun war ich damals schon etwas älter, und ich habe mir dann selbst gesagt: nun sei mal nicht trotzig und sei vernünftig, das ist doch eine sehr gute Sache. Zunächst war es schon etwas schwierig, aber heute muss ich sagen, es war eine hervorragende Entscheidung, dass ich das gemacht habe. Und heute bin ich mit Leib und Seele Kirchenmusiker, Kantor und Organist. Außerdem erfordert die Arbeit Loyalität der Kirche gegenüber … Die Kirche hat mich durchgefüttert, sie hat mir Zeit verschafft, dass ich komponieren konnte, dass ich Kontakt zu vielen Menschen bekam, mit denen ich dann die großen Aufführungen machen konnte.

Loyalität, das ist die eine Seite, aber ein Kirchenmusiker sollte auch fest im Glauben sein. Welche Bedeutung hat der Glaube für Sie?

Zunächst einmal würde ich sagen, dass die Theologen, die in ihrem Glauben schwankend sind, nicht die schlechtesten sind. Ich weiß nicht, es verlangt keiner von uns, auch der liebe Gott nicht, dass wir von morgens bis abends an ihn glauben. So ist es, glaube ich, nicht. Der Zweifel ist etwas, was den Glauben ja letztlich bestärkt, und ohne den Zweifel ist der Glaube mir mit zu wenig Tiefe behaftet. Das ist ein bisschen so wie Klein Erna sich das vorstellt, dass nun der Pastor sowieso, aber auch der Kirchenmusiker, von morgens bis abends davon überzeugt ist, dass alles genauso ist, wie es in der Bibel steht.

Welche Bedeutung hat der christliche Glauben denn in Ihrem täglichen Leben, und welchen Einfluss hat er auf Ihre Musik?

Ja, im täglichen Leben ist es ja so, dass man sich schon bemüht, seinen Mitmenschen gegenüber fair zu sein, sie anständig zu behandeln und möglichst wenig Egoist zu sein. Ob einem das immer gelingt, das ist eine andere Frage. Und was die Musik anbetrifft, wenn man zum Beispiel eine Messe komponiert, dann kommt es, glaube ich, weniger darauf an, dass man nun in jedem einzelnen Wort, was komponiert wird, von der Richtigkeit dieses Wortes überzeugt ist. Meines Erachtens genügt es völlig oder würde es völlig genügen, wenn man die Töne so geordnet hat, dass sie, um mit Strawinsky zu sprechen, von daher zur Ehre Gottes dienen. Wenn das erreicht ist, dann haben Sie mehr erreicht als jemand, der wirklich von morgens bis abends hundertprozentig an Gott glaubt, aber schlechte Musik gemacht hat.

Können Sie sich vorstellen, auch andere Musik zu machen als die Kirchenmusik, ich nenne es mal Schweppe Musik. Könnten Sie sich vorstellen, Jazzpianist zu sein, in einer Dixieland-Combo zu spielen?

Leider nicht, weil mir dazu gewisse Gaben fehlen. Dazu bin ich viel zu norddeutsch und viel zu einseitig begabt. Ich bewundere diese Musik, soweit es sich um wirkliche Jazzmusik handelt, und soweit es sich nicht um Unterhaltungsmusik handelt, aber leider kann ich es mir für mich nicht vorstellen.

Hat überhaupt populäre Musik, die leichte Muse, auch anspruchslosere Musik als die, die Sie machen, einen Platz in Ihrem Leben? Würden Sie das Radio anstellen und einfach Schlagermusik hören können?

Nein, das tue ich grundsätzlich nicht, ja, es sei denn, wenn meine Uhr stehengeblieben ist, oder ich will den Wetterbericht hören, das ist die einzige Möglichkeit, dass ich diese Musik höre. Schade ist natürlich, wenn Unterhaltungsmusik im Raum der Kirche verlangt wird. Das halte ich für bedenklich, für eigentlich unerlaubt.

Das heißt, Sie meinen, der Glaube kann nur in einer ihm angemessenen Musik auch transportiert werden.

Ja, das würde ich sagen. Ich hatte mir zum Beispiel einmal vorgenommen, eine berühmte Passage aus dem Neuen Testament zu komponieren, und zwar die Versuchungsgeschichte. Ich hatte mir vorgestellt, dass immer dann, wenn Christus spricht, ich die Musik schreibe, wie ich sie für richtig und für gut halte, und wenn die Schlange oder der Teufel spricht, dann wollte ich Unterhaltungsmusik zitieren. Das ist sicher keine schlechte Idee gewesen, doch ich bekam Angst, dass dann die Leute kommen und sagen: Mensch, das war ja tolle Musik. Und dann würde ich fragen: als Christus gesprochen hat? Nein, die Musik des Teufels und der Schlange. Dann wäre bei den Hörern eine völlig falsche Wirkung entstanden, die schwer zu korrigieren wäre. Deswegen habe ich diese Komposition nicht gemacht. Aber vielleicht traue ich mich irgendwann.

Sie sind Kantor und Organist?

Kantor und Organist, das ist ein Doppelberuf. Und in diesem Doppelberuf liegt natürlich ein Problem. Man muss sich nämlich fragen, worauf spezialisiere ich mich? Spiele ich mehr Orgel oder konzentriere ich mich mehr auf die Arbeit als Kantor? Das ist wirklich ein großes Problem. Die Zeit reicht eigentlich nicht, um beide Ämter wirklich voll zu erfüllen. also muss man sich spezialisieren.

Wie sieht denn Ihr Arbeitstag aus?

Viel Organisation, sehr viel Organisation. Denn als Kantor und Organist ist man ja nicht nur ausübender Musiker, sondern zusätzlich auch eine Art Konzertagentur. Wir müssen unsere ganzen Konzerte selbst organisieren, wir müssen mit den Orchestern Verhandlungen führen, wir müssen die Solisten engagieren, wir müssen Kontakte pflegen mit der Kantorei und wir müssen uns überhaupt erstmal überlegen, was wir aufführen wollen. Das nimmt alles sehr viel Zeit in Anspruch. Die meiste Zeit verbringe ich jedoch selbstverständlich mit üben an der Orgel.

Wie sieht Ihre konkrete Arbeit hier an der Wandsbeker Kreuzkirche aus?

Mittelpunkt ist ganz zweifellos der sonntägliche Gottesdienst. Und ich versuche, soweit es irgend geht, den jeweiligen Gottesdienst am Sonntagmorgen um 10 Uhr musikalisch gut auszugestalten. Dazu gehört nach meiner Auffassung ein großes Orgelstück. Wenn es zeitlich möglich ist, versuche ich an jedem Sonntag einen großen Bach, einen großen Buxtehude, eben ein großes Eingangsstück zu spielen. Und die Gemeinde honoriert das. Denn wenn es mir gelingt, gut Orgel zu spielen, dann singt die Gemeinde besser. Und schließlich bedankt sie sich dadurch, dass sie beim Nachspiel sitzen bleibt. Bei uns ist das Nachspiel nämlich kein Rausschmeißer. Der Gottesdienst ist nicht zu Ende nach dem Amen und dem Segen, sondern erst, wenn der Organist sein Orgelnachspiel beendet hat, wenn der letzte Ton verklungen ist.

Das heißt, der Gottesdienst in der Wandsbeker Kreuzkirche dauert länger als sonst üblich, weil Sie die Leute ja auch vorweg schon mit Buxtehude und mit Bach bedienen.

Das ist natürlich ein bißchen abhängig von der Länge der Predigt. Wenn der Pastor Zeit genug hatte, sich für eine kurze Predigt vorzubereiten, dann dauert der Gottesdienst trotz Vor- und Nachspiel nicht länger als eine Stunde.

Was geschieht sonst in der Gemeinde? Nicht jede Gemeinde hat einen Joachim Schweppe als Komponisten.

Ja, aber dafür hat sie dann andere Kollegen, die mindestens so begabt sind, wie ich es bin. Also, Kirchenmusik spielt natürlich zweifellos eine ganz große Rolle in der evangelischen Kirche, und das zeigt sich ja schon darin, dass unsere Konzerte durchweg sehr gut besucht sind.

Bleiben wir noch bei den Konzerten. Welche Orchester und Chöre gibt es in Ihre Gemeinde?

Orchester haben wir leider nicht in der Gemeinde. Mittelpunkt der kirchenmusikalischen Arbeit, und darauf konzentriere ich mich, ist die Kantorei. Die besteht ungefähr aus fünfzig Mitgliedern, singt einmal monatlich im Gottesdienst, und im übrigen verwenden wir viel Zeit auf die Chorproben, um uns auf die kleinen und großen Konzerte vorzubereiten, die uns im übrigen ja auch schon ins Ausland, z. B. nach Kopenhagen, geführt haben.

Als Kantor sind Sie nicht nur der Chorleiter, sondern auch der Motor für das, was in der Gemeinde musikalisch passiert. Wie sehen Sie sich selbst?

Wissen Sie, meine Kollegen werden sagen: ach ja, der Schweppe, das ist der Mann da in Wandsbek, der so ’n bisschen komponiert, und das ist so ziemlich alles, und in sofern … Ich finde das ganz schön so. Neben dem Komponieren mache ich Aufführungen, die vielleicht gar nicht mal so schlecht sind. Das heißt also, dass ich mich darum bemühe – und die Gemeinde erwartet das ja auch -, die großen Standard-Oratorien aufzuführen, also sagen wir Johannes-Passion, Matthäus-Passion von Bach, oder eine Schubert-Messe, oder auch ausgefallenere Sachen. Wir haben zum Beispiel zum Beethoven-Jubliläum Christus am Ölberge gemacht, ein Stück, was fast vergessen war. Und das hat viel Spaß gemacht, diese Musik aufzuführen. Beethoven ist ohnehin ja zur Zeit etwas ins Hintertreffen geraten. Das hat sicherlich seine Gründe, und irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, dass Beethoven wieder mehr in den Vordergrund rücken wird. Und Christus am Ölberge ist ein faszinierendes Stück, sicher mit einigen Schwächen, aber trotzdem merkt man eben, dass das Musik eines Genies ist. Ich will damit sagen, dass ich nicht nur eigene Musik aufführe in meiner Gemeinde. Wissen Sie, das wäre zu einseitig, das wäre auch zu egoistisch. Viele mögen diese Musik ja auch gar nicht so gern. Für die ist sie zu fremd, und viele Gemeindemitglieder erwarten, dass wenigstens einmal im Jahr ein Standardwerk der Oratorienliteratur aufgeführt wird.

In der Gemeinde hier in Wandsbek hing vor einigen Monaten ein Plakat: Mozart – Bach – Schweppe, in dieser Reihenfolge auch, ein Hinweis auf ein Konzert. Und Sie sprechen auch von den ersteren beiden immer in den allerhöchsten Tönen. Von Ihren eigenen Kompositionen betonen Sie immer, dass sie in Ordnung sind und auch schöne Stücke sind, aber es klingt immer so ein bißchen durch, dass die Anerkennung, auch die öffentliche Anerkennung, Ihnen ein klein wenig versagt bleibt. Habe ich das so richtig verstanden?

Ja, das ist völlig richtig so, aber ich würde das nicht irgendwie besonders betonen wollen. Es ist ja auch die Frage, wenn in unserer heutigen Zeit, wo der Kunstbetrieb, ich sag es jetzt mal ganz bewusst, der Kunstbetrieb ja doch etwas sehr Fragwürdiges darstellt, ob es überhaupt sehr gut wäre, wenn Sie als schöpferischer Musiker, als schöpferischer Künstler, also als Komponist voll anerkannt wären.